Kleine groß(artig)e Dinge
„If I cannot do great things, I can do small things in a great way.“
Martin Luther King
Das Erste, das wir nach zwei Pausentagen in Sivas feststellen, sind die recht großen Distanzen zwischen den Ortschaften in Zentralanatolien, die nahezu australische Ausmaße annehmen. Die Radtage sind geprägt vom Blick über weite Flächen, die überwiegend landwirtschaftlich genutzt werden und von großer Hitze, die zu einem noch höheren Flüssigkeitsbedarf führt als sonst. Ersteres könnte eine Erklärung für die in weiten Teilen der Türkei als sehr bodenständig erlebte Bevölkerung sein. Das ländliche Leben scheint einem eigenen Rhythmus aus Arbeit auf dem Feld, Gebet in der Moschee und Tee trinken vor kleinen Teestuben zu folgen.
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Brütend heiß scheint die zentralanatolische Sonne schon am frühen Morgen auf uns herab, wenn wir meist ohne schattenspendende Bäume, denn die sind in dieser Region selten , in den Tag starten. Doch glücklicherweise weht regelmäßig auch eine leichte Brise, die für Abkühlung sorgt – selbstverständlich ENTGEGEN der Fahrtrichtung für MEHR Abkühlung! 😉 Ein zweiter Aspekt unserer Beobachtungen ist die Dichte an Tankstellen, die sich mitunter wie aufgefädelt an den Hauptverkehrsadern finden – wie schon in Armenien und Georgien ist Autogas in der Türkei weit verbreitet. Nur haben die Fahrzeuge der hiesigen Bevölkerung nicht schon mehrere Dekaden auf dem Buckel, sondern sind mitunter megamoderne Schlitten. 🙂
Kleinigkeiten am Wegesrand, über die wir uns regelmäßig freuen, sind Picknickplätze, meist auch noch mit einer hübsch in Stein gemauerten Quelle ausgestattet. So lässt es sich hervorragend radreisen. Moscheen, flächendeckend und in machen Ortschaften sogar mehrfach vorhanden, sind neben ihrer religiösen Bedeutung für die Einheimischen eine gute Anlaufstelle unsererseits für ein schattiges Picknick, Trinkwasserversorgung oder den Toilettengang.
Quell der Erfrischung und der Freude am Wegesrand
Eine erste interessante Begegnung erleben wir, als uns Kamran entgegen kommt – zu Fuß. Kamran ist ein aus dem Iran stammender Schwede mit großer Mission. Seit März 2017 ist er laufend in sein Heimatland Iran unterwegs in dem Versuch mit seiner individuellen Aktion einem ganzen Volk zu zeigen, dass jede*r etwas bewegen kann. Er möchte die iranische Bevölkerung motivieren, so erklärt er uns, gegen den religiösen Fanatismus des Staates aufzustehen. Bei seinem ersten Aufenthalt im Iran im Februar diesen Jahres wurde er für zwei Monate inhaftiert und anschließend des Landes verwiesen. Von Ankara aus ist er nun erneut unterwegs mit dem Ziel Shiraz.
Kappadokien heißt die nächste Station unserer Reise, falls sich die Eine oder der Andere unter Euch gefragt haben sollte, weshalb wir einen so großen Bogen in´die Mitte der Türkei geschlagen haben. Hier legen wir einen ersten Stop in Avanos ein, am längsten Fluss der Türkei, dem Kizilirmak, gelegen und berühmt für ihr Töpferhandwerk. Wir stürzen uns am Nachmittag in die Fluten des campingplatzeigenen Swimmingpools und am frühen Abend in das touristische Zentrum der Kleinstadt, dass wir jedoch als sehr sanft und geruhsam erleben. Nach einem Bummel durch den Uferpark, über die alte Holzschwingbrücke und die Ruinen der Altstadt beenden wir den Abend mit einem üppigen Mahl im Restaurant Konak Corba & Kebap Evi Zugegeben sind unsere Augen und unser Appetit ausnahmsweise größer als unsere Mägen, so dass wir doch ganz froh sind, als die Küche vergisst uns auch noch die bestellte Linsensuppe zu servieren.
Töpferstadt Avanos
Die Region Kappadokien entstand in ihrer heutigen Form vor etwa 20 Millionen Jahren bei den Ausbrüchen verschiedener Vulkane. Besiedelt wurde das Gebiet zuerst vor ca. 7.000 Jahren und erlebte im 1. und 2. Jahrhundert eine Christianisierung durch das Römische Reich. Auf Grund ihrer Religion verfolgte Christ*innen aus Armenien, Syrien, Palästina und Ägypten suchten ab dem 11. Jahrhundert Schutz in dem weitläufigen Areal.
Von Avanos aus erkunden wir auf dem Weg nach Göreme weitere großartige Sehenswürdigkeiten, die die Region zu bieten hat: Aktepe, Zelve, Pasabagi, Çavusin, Güllüdere Vadisi (Rosental) . Für zwei Nächte mieten wir uns auf dem KAYA Camping ein, wo sich unser Aufenthalt fast schon wie ein Kurzurlaub anfühlt. Wir verlassen Schatten und Pool nur für eine spätnachmittägliche Besichtigung im Göreme Open Air Museum mit seinen zahlreichen in Fels gehauenen und mit Wandmalereien verzierten Kirchen aus dem 9. bis 12. Jahrhundert. Ich bin mehr als beeindruckt davon, welche Kunstwerke hier von Natur, Gestein, Wasser,Wind, Erosion und Menschenhand geschaffen wurden. In strahlendem Weiß, lehmigem Braun, sanftem Rosa oder schieferfarbenem Grau bestaunen wir Türmchen, Höhlen, Löcher, Auswaschungen, Kanäle, Stufen und Kegel. Stell Dir vor, Du bist im Märchenwald angekommen – dann hast Du eine ungefähre Idee, wie wir uns fühlen. 🙂
Impressionen Kappadokien
Auf der Weiterreise sehen wir uns mit einer steigenden Anzahl von Treffen mit anderen Radreisenden konfrontiert wie Mathieu & Sonia aus Frankreich, Nicolas aus der Schweiz, Adam & Patricia aus Ungarn oder Guillaume & Pablo ebenfalls aus Frankreich – alle wie wir auf einer Langzeitreise, also für mindestens vier Monate on tour. Aus meiner Sicht lässt sich an der Anzahl der reisenden Nationalitäten gut ablesen, wo der gesellschaftliche Reichtum seine Heimat hat.
Die türkische Gastfreundschaft – wie Mirko bereits im letzten Blogpost berichtet hatte – ist nach wie vor beeindruckend. Sei es eine Einladung zum Tee, die Tüte selbstgepflückter Aprikosen für unterwegs, zwei Kekse auf die Hand vom vorbei reitenden Schafhirten oder Kebab vom Grill mit Gemüse und Brot am Ende eines langen Radtages – es sind diese kleinen Gesten, die einen so groß(artig)en Unterschied machen! Die Menschen scheinen begeistert von ihrem Land, ihrer Kultur und erfreut über jede*n Reisende*n, der*die bereit ist, Land und Leute kennen zu lernen, völlig unabhängig von der Herkunft. In schöner Regelmäßigkeit treffen wir in Zentralanatolien nahezu täglich Deutsch sprechende Türk*innen.
In Sereflikoçhisar, südlich von Ankara, erreichen wir den Salzsee Tuz Gölü, den mit 1.665qkm zweitgrößten See der Türkei. Mit mehr als 30% Salzgehalt befinden sich am Ostufer des Sees entsprechend zahlreich Salzfabriken. In fantastischer Abendstimmung überqueren wir auf einem Damm den See, genießen das wunderbare Farbspiel im Licht der untergehenden Sonne und finden am anderen Seeufer einen beschaulichen Campingspot für heute Nacht.
Salzsee Tuz Gölü
Einen weiteren Zwischenstop legen wir in Eskisehir ein- zwischen den geruhsamen Tagen auf dem Land und dem Trubel der 735.000 Einwohner zählenden modernen Student*innen-Stadt besteht ein himmelweiter Unterschied. Direkt nach unserer Ankunft begeben wir uns für einen Stadtrundgang ins historische Viertel Odunpazari. Neben hübschen engen Gassen und altehrwürdigen Gebäudekomplexen begutachten wir eine Ausstellung von imposanten Meerschaumpfeifen, für die Eskisehir über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Am Abend stürzen wir uns dann ins freitägliche Nachtleben auf der angesagten Partymeile der Stadt und finden uns in absoluter Reizüberflutung wieder: elektronische Musik vom DJ-Pult, das Viertelfinale Brasilien-Belgien auf diversen überdimensionalen Flachbildschirmen, Experimente für unsere Geschmacksnerven mit Çigbörek und Sigara böregi, rauchgeschwängerte Kneipenluft und ungewohnter Alkoholkonsum. Das Resultat ist ein anschließender Ruhetag in der Großstadt. 😉
Historisches Viertel Odunpazari, Eskisehir
Während wir auf der Strecke zwischen Bozüyük und Yalova am Marmara-Meer unserer Route durch winzige, teilweise verfallene Dörfer, herrlich schattigen Eichenwald sowie Felder von Sonnenblumen, Zuckerrohr, Spitzpaprika, Mais, Weizen und Bohnen nehmen, philosophieren wir u.a. darüber, wie wichtig es uns doch ist, die Daheimgebliebenen an unserem Abenteuer teilnehmen zu lassen. Deshalb an dieser Stelle ein erneutes großes Dankeschön an Euch, dass Ihr uns mit Euren Rückmeldungen und Eurem Interesse die Möglichkeit gebt, das Erlebte zu reflektieren und festzuhalten!
Der Iznik-See, an dessen Westufer wir unsere letzte Nacht in Asien verbringen, ist umstanden von dichten Olivenplantagen. Der Waldstreifen, in dem wir campen, wird auch von den Einheimischen als ein allerorts beliebtes Picknickplätzchen genutzt. Wir finden, das ist eine wunderbare Tradition, die hier gelebt wird. Die einzige Schattenseite ist aus unserer Sicht die Tatsache, dass sich kaum jemand für den entstandenen Müll verantwortlich zu fühlen scheint, denn der bleibt einfach IMMER liegen. Traurig für ein Land, das wir andernfalls als sehr fortgeschritten erleben!
Mit der Fähre über das Marmara-Meer gelangen wir von Yalova vorbei an den Prinzeninseln in die vielseitige Millionenstadt Istanbul. Nach minimalen 56.053km im Sattel betreten wir wieder europäischen Boden, denn wir schieben die Räder von der Fähre. 🙂 Für die Erkundung dieser geschichtsträchtigen Stadt werden wir uns einige Tage Zeit nehmen, um diese bunte Vielfalt angemessen auf- und für die Weiterreise mitzunehmen.
Zum Abschluss für heute ein Gedicht von „Crazy Ali„, einer lebenden Legende Kappadokiens, dem wir zufällig bei unserer Stippvisite in Ortahisar begegnet sind:
Weißt Du es?
Verstehst Du wie groß die Welt ist? Weißt Du, was sich alles im Inneren befindet? Menschen, Menschen, Menschen. Was sie getan haben und was sie tun werden.
Sie haben einander nicht geliebt. Sie sagen, dass Deine Hautfarbe anders sei, dass Du anders aussiehst. Sie sagten, dass Du an einen anderen Gott glaubst, dass Deine Rituale anders seien.
Weißt Du, was passieren wird? Die Welt ist so groß, wie kann ich es wissen? Millionen, Abermillionen Menschen. Aber ein kleines Hirn kann größere Gedanken denken.
Ich sehe ein kleines Dorf. Katzen mit Hunden, Hühner mit Füchsen. Sie leben zusammen. Wie können es die Menschen lernen, das Gleiche zu tun?
Die Welt ist groß in Deinem Gehirn. Das kleine Dorf ist da. Was auch immer Deine Gedanken bewegt, wenn Du es wünschst, wird darin sogar die Sonne aufgehen.
Gesamtstrecke: 56.049km
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….und nun schon wieder in europa,
krasses ding! auf jeden fall aber gut zu wissen, dass ihr weiterhin wohlauf seid und zumindest schonmal die einfahrt in den „molloch“ istanbul schadlos überstanden habt. ist bestimmt keine radler-stadt, oder?
der officer ist mit seiner sippe am WE übrigens auch über eine schwingende brücke geradelt, allerdings nicht in zentralanatolien, sondern in grimma, war trotzdem
spannend und die einheimmischen dort waren auch nett 😉
ihr seid übrigens nicht die einzigen die zuletzt erfahrungen mit alkoholkonsum gemacht haben … guckt mal unter dem namenslink, wie unser jean-claude „wenn es ernst wird, muss man lügen!“ juncker so unterwegs war zuletzt 😉 wahrscheinlich hat er dann auch einen ruhetag eingelegt
na wie auch immer, passt weiterhin gut auf euch auf und genießt die tage in der stadt des Hüzün ….
der officer samt sippe