Die Zeit danach

“Wer immer das Fahrrad erfunden hat, ihm gebührt der Dank der Menschheit.” (Charles Beresford)

Das Fahrrad als Weiterentwicklung der Draisine ist nicht nur während der vergangenen dreieinhalb Jahre eine wahre Bereicherung für mein Leben gewesen, sondern war es bereits davor und wird es wohl auch bleiben.

Beim Lesen vieler anderer Reiseberichte – sowohl während der Vorbereitung auf unsere Weltumrundung als auch unterwegs auf der Suche nach weiteren Anregungen auf den verschiedenen Kontinenten – fehlte mir häufig ein Erfahrungsbericht darüber, wie die Eingewöhnung nach der Rückkehr anderer Radnomad*innen verlaufen war. Daher richtet sich dieser Blogpost an alle, die wissen möchten wie es uns bei der heimatlichen Wiedereingliederung ergangen ist oder schlicht und ergreifend von der Droge „Mitreisen“ noch immer nicht genug haben. 🙂

Mit einer vorzeitigen Ankunft können wir zumindest einen Teil unserer Familien aus den Latschen kippen, die Aufregung ist bei allen Beteiligten riesig, Herzrasen eingeschlossen. Wir nisten uns bei meinen Eltern ein, wo ein Gästezimmer mit Vollverpflegung auf uns wartet. Ein Besuch bei Krankenkasse und Agentur für Arbeit stehen als Erstes auf dem Programm. Im Rückblick ist zumindest Zweiteres ein großer Fehler, denn aufgrund der entspannten Arbeitsmarktlage haben die dortigen Mitarbeiter*innen große Zeitfenster und entsprechend schnell werden wir beide mit persönlichen Terminen bei unserer*m jeweiligen Vermittler*in versorgt. In meinem Fall überschlagen sich die Termine für Arbeitsamt und Vorstellungsgespräche innerhalb weniger Tage – eine entsprechend große Herausforderung, diese Ereignisse zu verarbeiten. Gleichzeitig entwickeln sich die Bewerbungsverfahren zu einer famosen Möglichkeit der Selbsterfahrung: Wie möchte ich mich einbringen? Was ist mir wichtig an einer Arbeitsstelle? Was erwarte ich von einem Unternehmen? Wie viel freie Zeit wünsche ich mir in meinem Alltag?

  

 

Der erste Besuch in unserem Lager – Abschied von den ollen Tretern – Das Gesunde Plus – Willkommen in Deutschland

Zur weiteren Einstimmung ins Heimische geben wir uns nur wenige Tage nach unserem Einrollen in Silberstraße ein Großevent mit meiner überaus umfangreichen Familie: Meine kleine Cousine Julia heiratet – ein Anlass zum ausgiebigen Feiern, fürstlichen Schlemmen und ausführlichen Schwatzen. Der dröhnende Schädel am nächsten Tag ist weniger dem Alkoholgenuss, sondern mehr dem ungewohnten Trubel zu zu schreiben. Für große Menschenmengen über einen längeren Zeitraum brauchen unsere Körper wohl noch einige Gewöhnungszeit. Eine Woche später zum 70. Geburtstag von Mirkos Mama haben wir schon mehr Übung. 🙂 Und bei der Straßenschlacht am 30. September 2018 in Limbach-Oberfrohna, DEM Großevent für Radverrückte aus ganz Deutschland, schauen wir in aller Genüsslichkeit anderen beim Radfahren zu. 🙂

“Nichts ist vergleichbar mit der einfachen Freude, Rad zu fahren.”  (John F. Kennedy)

  

 

Festlich zur Hochzeit – Radevent „Straßenschlacht“ – Geburtstag in Familie

In unserer freien Zeit krempeln wir zur Unterstützung von Jan und Nancy in der letzten Phase des Hausbaus die Ärmel hoch und üben uns in Schleifen, Spachteln, wieder Schleifen, Malern und Laminat legen – eine für uns völlig ausgefallene Beschäftigung für Kopf und Körper. Nach und nach folgen die ersten Treffen mit lieben Freund*innen. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, dass am Ende dieser Begegnungen der Hals kratzt, die Lippen in Fetzen hängen. Eine freudige Episode war auch der erste Besuch bei meinen fast 90jährigen Großeltern, die eine Sammlung unserer Weltreiseabenteuer  in einem bunt beklebten, wohl sortierten Aktenordner aufbewahren.

  

  

Handwerker*inneneinsatz – Aktiv in Leipzig – Im Freundeskreis – Tiefgarage in Leipzigs Zentrum

Eine Auswahl an häufig gestellten Fragen veröffentliche ich an dieser Stelle inklusive der Antworten:

*Wie geht es Euch nach der Rückkehr in den „Alltag“? … Aktuell fühlen wir uns im Schwebezustand – nicht mehr unterwegs, aber auch noch nicht angekommen. Das wird sich sicherlich erst ändern, wenn wir einen Ort gefunden haben, den wir „unsere eigenen vier Wände“ nennen können und aufhören, aus Kartons, Packtaschen oder Rucksäcken zu leben.

*Wo war es am schönsten? … Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Überall auf der Welt konnten wir hübsche Ecken entdecken, jedes der von uns bereisten Länder hielt schöne Fleckchen für uns bereit. Klar gab es einige Höhepunkte, wie die Salar de Uyuni oder unsere Wanderung im Himalaya, doch entscheidend war für uns die große Freiheit völlig unabhängig unterwegs zu sein.

*Hattet Ihr überlegt, Euch irgendwo auf der Welt niederzulassen? … Nein, für uns war immer klar, dass wir erstens wieder nach Deutschland zurück kehren, weil wir Familie und Freund*innen überaus schätzen, und zweitens natürlich die Weltumrundung vollenden wollen.

*Habt Ihr mal ans Aufhören/Aufgeben gedacht? … Ja, ich hatte nach ungefähr sechs Monaten eine Phase, in der ich überlegt hatte, von Mexiko zurück zu fliegen und Weihnachten 2015 zu Hause zu feiern. Ursache für diese Sinnkrise waren verschiedene Faktoren, allen voran sicherlich das anstehende Verlassen der Wohlfühlzone „westliche Zivilisation“. Vom Aufgeben abgehalten hat mich die Vorstellung, mich ewig zu fragen, was gewesen wäre, wenn… Ein erster (Rück-)Blick in die Reisetagebücher hat lustigerweise unter anderem einen Eintrag zutage gefördert, in dem ich bereits an Reisetag #3 Zweifel niederschrieb,ob ich diese Reise kräftetechnisch schaffen kann. 😀

*Haben die Fahrräder durchgehalten? … Ja, da haben wir wirklich gutes Material auf die Strecke gebracht. Bis auf den Wechsel von Verschleißteilen war nicht eine große Reparatur fällig. Selbst die mit im Gepäck befindlichen Ersatzspeichen haben wir vollständig wieder mit nach Hause gebracht.

*Wie viele Reifen und Schläuche habt Ihr verbraucht? … Puh, wir haben darüber keine Statistik geführt. Vermutlich haben wir pro Rad etwa fünf Reifensets verbraucht, Schläuche wurden erst ersetzt,wenn sie mindestens 13 Flickstellen aufwiesen.

*Wart Ihr mal ernsthaft krank? … Auch da hatten wir Glück. Bis auf die Tonsillitis in Spanien 2015 und die Nierenentzündung auf Bali 2017 (beides Ina) und hin und wieder mal einen Tag, wo wir uns ein bisschen unwohl gefühlt haben oder auch mal einen Schnupfen hatten, waren wir die gesamte Strecke kerngesund. Ach ja, der böse Sonnenbrand sei an dieser Stelle noch erwähnt.

*Wollt Ihr ein Buch über Eure Reise schreiben? … Nein, davon bietet der Markt schon zu viele. Wobei wir unterwegs überlegt hatten, ein Kochbuch für Radreisende zu veröffentlichen um zu zeigen, wie kreativ Kochen auch mit nur einem Topf sein kann.

*Wie habt Ihr Euch in all den Ländern verständigt? … Vor allem variantenreich, häufig in Englisch. Zentral- und Südamerika hatten den Vorteil, den langfristigen Aufenthalt mit nur einer Sprache gestalten und hier und da tatsächlich eine regelrechte Konversation in Spanisch führen zu können. Unser Anspruch war darüber hinaus, in jedem Land zumindest einen Grundwortschatz zu beherrschen. Das mitgeführte Ohne-Wörter-Buch bringen wir während der 1.257 Reisetage genau ZWEI Mal zum Einsatz, in „Mit-Händen-und -Füßen“-Kommunikation sind wir jetzt Profis.

*Welche gefährlichen Momente habt Ihr erlebt? … Von tollkühnen Aktionen anderer Verkehrsteilnehmer*innen abgesehen keine. Wir konnten uns gut auf unsere Bauchgefühl verlassen und sind einfach weitergeradelt, wenn sich Situationen für mindestens eine*n für uns komisch anfühlten.

*Wie hat die Reise Eure Partnerschaft verändert? … Ooooh, … wir sind uns unserer Macken viel bewusster geworden, gleichzeitig auch unserer Vorzüge. Wir haben gelernt, uns selbst nicht so wichtig zu nehmen, die Eigenarten der*des Anderen zu akzeptieren und unsere Unterschiede wertzuschätzen. Bei Streitigkeiten ist Radfahren im Übrigen eine gute Variante, ungestört über die Auseinandersetzung nachzudenken und den jeweils anderen Standpunkt einnehmen zu können. Das erleichtert das Aufeinanderzugehen. Unserer Partnerschaft zuträglich war natürlich auch die viele Zeit, die wir zum Gedankenaustausch hatten.

*Habt Ihr schon die nächste Tour geplant? … Nein, doch die kommt bestimmt, wenn auch mit Sicherheit in einem kleineren Maßstab als das Abenteuer „Kette links“.

*Wie geht´s nun weiter? … Inzwischen waren wir erfolgreich bei der Stellensuche und freuen uns beide sehr auf den Arbeitsbeginn zum 01.01.2019 – wir zwei hatten das Glück jeweils eine Stelle aufzuspüren, die gut zu uns und unseren Vorstellungen passt: Die Mitwirkung an einer noch lebenswerteren und nachhaltigeren Gesellschaft. Als nächste Schritte stehen nun die Suche nach einem trauten Heim, die Umsetzung der Ideen, die wir unterwegs gesammelt haben, und die Verwirklichung weiterer Radreiseträume an, denn

„Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele: Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur. Darum, Mensch, sei zeitig weise! Höchste Zeit ist´s! Reise, reise!“.

Dieses Zitat von Wilhelm Busch bekam ich vor etwa dreieinhalb Jahren von zwei guten Freundinnen mit auf den Weg. Nun bin ich um die Welt gereist und kann behaupten, sowohl tolle Erlebnisse als auch (innere) Einsichten gesammelt zu haben. 60 Tage weilen wir nun schon wieder im schönen Sachsen – wie idyllisch es hier tatsächlich ist, konnten wir in den letzten Wochen bei diversen Radtouren zum Abtrainieren immer wieder feststellen. Das Erzgebirgsvorland bietet von jeder Hügelkuppe – und davon gibt es hier jede Menge – die wunderbarsten Ausblicke. Ich habe an mir selbst beobachtet, dass ich die Vorzüge meiner Heimat heute mit ganz anderen Augen sehe.

„Der kürzeste Weg zu Dir selbst führt einmal um die Welt.“ (Richard Hoffmann)

Zum Abschluss noch ein Hinweis in eigener Sache: Bitte denkt daran, beim Überqueren der Straße aufmerksam nach rechts, links und wieder rechts zu schauen! Denn auch wenn Ihr keinen Motor hört, könnte ein*e Fahrradfahrer*in unterwegs sein.

Und weil ich sie so schön finde, hier für Euch der Link zu einer Sammlung wunderbarer Zitate rund um das Fahrrad.

In diesem Sinne vielen Dank für´s Mitreisen und alles Gute für Euch!

Eure  Radgurken Mirko & Ina

Ein Gedanke zu „Die Zeit danach“

  1. dann gilt ab 1.1. also: „jaja jetzt wird wieder in die hände gespuckt, wir steigern das …“

    vorher aber erstmal schöne weihnachten mit ordentlich stollen, glühwein und konsumrausch … war ja in den letzten jahren irgendwie anders …

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