Spritztour durch das fünfzigst-kleinste Land der Welt
Das Wiedersehen mit unseren Fahrrädern ist eine große Freude. Da stehen sie im Hostel Orquídea in Cancún und warten geduldig auf unsere Rückkehr, etwas eingestaubt und von Spinnweben überzogen, doch alles in allem unversehrt. Also stellen wir ihre Geduld nicht länger auf die Probe, sondern brechen am Morgen des 17. März 2016 Richtung Süden auf.
In den ersten zwei Tagen haben unsere Hinterteile Gelegenheit, sich (schmerzhaft) wieder an das Sitzen im Sattel zu gewöhnen… Und dann sind wir auch schon in Tulum angekommen. Auf einem wunderschönen kleinen und familiären Campingplatz direkt am Meer, dem Playa Roca, legen wir einen Tag Pause ein, um eine weitere Maya-Stätte zu erkunden, die Ruinen von Tulum.
Der besondere Reiz der im Vergleich zu Chichén Itzá oder Palenque eher kleinen Anlage liegt aus meiner Sicht darin, dass sie sich direkt an der Steilküste befindet und damit außergewöhnliche An- und Aussichten bietet.
Ruinen von Tulum
Auf dem Zeltplatz lernen wir u.a. Axel aus Hamburg, in Alaska lebend und den Winter in Mexiko verbringend, kennen. Ebenfalls begeisterter Radfahrer borgt ihm Mirko sein Fahrrad für eine kleine Spritztour, während wir in und um die Ruinen herum steigen. Im Gegenzug wird Axel für uns Wasserfilter (hatten wir bereits in Kuba im Gepäck zur Übergabe an meine Eltern, jedoch verpeilt ihn auch mitzugeben) und GPS-Gerät (durfte in Kuba nicht eingeführt werden) nach Deutschland transportieren. Danke dafür, Axel!
Frisch und fröhlich starten wir am nächsten Morgen gen Bacalar. Doch, oh weh, nach 26km stellen wir fest, dass Axel noch immer unser Werkzeugtool zum Einstellen der Sattelhöhe während seines Radausfluges hat. Also kämpfen wir uns – bei feinstem Gegenwind – die 26km wieder zurück und lassen uns für eine weitere Nacht häuslich auf dem Playa Roca nieder. Am späten Nachmittag wird der Himmel schwarz und öffnet mit einem gigantischen Gewitter all seine Schleusen. Jetzt sind wir froh, gemeinsam mit der Camping-Gemeinschaft unter dem Dach der Küche ausharren zu können, statt irgendwo in der Wildnis dem zweistündigen Weltuntergangsszenario ausgesetzt zu sein.
Abschied von Axel
Und täglich grüßt das Murmeltier… erneut radeln wir mit den besten Wünschen für eine gute und sichere Reise im Gepäck vom Playa Roca los. Und dieses Mal kommen wir tatsächlich voran. Innerhalb von zweieinhalb Tagen Fahrt durch viel, viel Natur und nur ganz wenig Zivilisation erreichen wir Bacalar an der gleichnamigen Lagune. Im Schein des Vollmondes, der direkt über dem Wasser steht, nehmen wir Abschied von Mexiko.
Denn am 24. März 2016, genau vier Monate nach unserer (ersten) Einreise in mexikanische Gefilde, verlassen wir dieses landschaftlich und kulturell so vielfältige Land und reisen in Belize ein. Nur etwa 15km südlich der Grenze in Corozal machen wir erste Erfahrungen mit der Offenheit und Freundlichkeit der belizianischen Bevölkerung und steuern den Campingplatz „Caribbean Village“ an. Doch schon am nächsten Morgen stellen wir erneut fest, dass wir noch nicht ganz im Radmodus angekommen sind: Erst nach elf Kilometern bemerken wir, dass wir – und zwar gleich beim Start – den Abzweig nach Sarteneja verpasst haben. Umkehr ist angesagt und so sind wir also nach gut eineinviertel Stunden und 21km Fahrt unserem Tagesziel genau 1km näher gekommen!
Die nächste Aufregung erleben wir an der Seilfähre über den New River. Wir hatten im Lonely Planet gelesen, dass diese Seilfähren von Hand betrieben werden. Also springt Mirko zielstrebig an die Kurbel und löst deren Feststellschraube. Mit einem gewaltigen Knall rutscht das Eisenseil ins Wasser und es folgen erboste Rufe vom anderen Ufer, deren Inhalt ich besser nicht wiedergebe. Wir kurbeln zu zweit das Seil wieder straff, fixieren es und die beiden Fährmänner setzen zu uns über. Zum Glück scheint deren Ärger schon wieder verraucht. Zur Wiedergutmachung kurbelt uns Mirko gemeinsam mit jeweils einem der beiden Kollegen an die gegenüberliegende Flussseite. Bei der folgenden, kleineren Fähre wissen wir dann schon Bescheid…
Mirko auf und an der Seilfähre
Über mehrere Stunden quälen wir uns an diesem Tag noch über staubige Schotterpiste bis Sarteneja – wie schrieb schon J.R.R. Tolkien in Der kleine Hobbit: „Bilbo dachte gerade traurig darüber nach, dass Abenteuer durchaus nicht nur Spazierritte auf dem Pony im Maisonnenschein waren.“…. doch auch diese Qual hat irgendwann ein Ende. Am Abend gibt es im Backpacker´s Paradise ein zünftiges Osterfeuer mit handgemachter elektronischer Musik der Eigentümerin Natalie.
Unsere nächste Station heißt Orange Walk Town, konkret das Lamanai Riverside Retreat direkt am New River. Am Abend tummeln sich vier oder fünf Flusskrokodile im Wasser, während wir als einzige Campinggäste die Ruhe genießen. Leider (oder vielleicht auch glücklicherweise, wer weiß das schon) lassen sie sich an Land nicht blicken.
Drei weitere Tage hurtige Fahrt durch Belize folgen – manchmal können wir gar nicht genau sagen, sind wir jetzt in der brandenburgischen Heidelandschaft unterwegs, am Ufer des Sambesi in Afrika, im musikalischen Jamaika oder eben doch in Lateinamerika. Belize hat von allem etwas. Und doch beschleicht uns hin und wieder das Gefühl, das wirkliche Belize gar nicht kennen zu lernen, sondern nur eine große Spielwiese für US-Amerikaner*innen und Kanadier*innen vor uns zu haben: Wohlfühl- oder Abenteuer-Offerten bzw. Kombinationen aus beiden soweit das Auge reicht… Und möglicherweise sind sieben Tage auch einfach zu wenig, selbst ein so kleines Land wie Belize wirklich zu entdecken.
Spritztour durch Belize
Bevor wir Belize verlassen, statten wir Wolf´s Place noch einen Besuch ab. Wider Erwarten treffen wir hier (vorerst) nicht auf den Karl-Marx-Städter Peter Wolf, dem wir viele Grüße aus der Heimat bestellen möchten. Doch seine Nachfolgerin Nina nimmt uns überaus herzlich auf und lässt uns unser Zelt im paradiesischen Gelände von Wolf´s Place aufstellen. Wir kommen in den Genuss einer wunderbar warmen Freiluftdusche am Abend und eines liebevoll vielfältigen Frühstücks am Morgen, bei dem wir dann auch Peter begegnen.
Guatemala, das Land der Bäume – ich bin vom ersten Moment an begeistert und behaupte, Mirko geht es ebenso. Die Natur dieses Landes ist so reizvoll wie seine Bewohner*innen liebenswürdig sind. Noch dazu gehen sie sehr fürsorglich mit uns und unseren immer noch radebrechenden Spanisch-Versuchen um. Kaum vorstellbar, dass dieses Land erst seit 20 Jahren in Frieden lebt. Gleich die erste Nacht unter guatemalischem Himmel verbringen wir neben der Schule einer kleinen Ansiedlung, Aldea. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, dass wir nicht nur die Neugier der Jüngsten wecken, die uns ganz gespannt beim Zeltaufbau, -einrichten und Kochen zuschauen. Insbesondere das Wort „Zwiebel“ findet bei den Zwei- bis Zwölfjährigen großen Anklang. Während ich am Abend diese Zeilen schreibe, lauschen wir den Klängen der singenden Menschen in der nahegelegenen Dorfkirche. Mirkos Kommentar: „Also der Gesang ist hundertprozentig authentisch, aber schön ist er nicht!“.
Escuela Las Gaviotas
Wir steuern als erstes Ziel in Guatemala das kleine Örtchen El Remate am Lago Petén Itzá an. Vom Linda Vista Camping, direkt am See gelegen und quasi mit Familienanschluss, starten wir per Rad einen Tagesausflug in die Ruinen von Tikal. Eigentlich hatten wir kein Bedürfnis mehr, weitere Mayastätten zu besuchen. Doch Tikal wurde uns wärmstens empfohlen und hat tatsächlich seinen Reiz. Im Gegensatz zu anderen Ruinen befindet sich Tikal mitten im Dschungel und nur ein Teil der Anlage ist freigelegt. Zwischen den einzelnen Tempeln bewegen wir uns auf engen Pfaden durch dichten Urwald, um uns herum die Geräusche der versteckten Tierwelt. Vom 64m hohen, am höchsten gelegenen Templo IV bietet sich ein grandioser Blick über das üppige Blätterdach, durchsetzt mit einzelnen anderen Tempelspitzen.
Ruinen von Tikal
Komfortabler Rückenwind trägt uns an zwei der nächsten vier Tage von El Remate über Santa Elena, La Libertad, Sayaxché und Chisec nach Cobán. Dabei durchqueren wir unzählige kleine Örtchen, die vor allem von indigener Bevölkerung geprägt sind. Die Frauen tragen lange bunte Röcke, Maisfelder zieren neben dichtem Nebelwald die Landschaft, Kinder begrüßen uns freudig mit einem aufgeregten „Gringo!“ oder winken uns „Goodbye!“. Mitunter haben wir sogar den Eindruck, unser Gegenüber ist – wie wir – der spanischen Sprache unkundig.
Die letzten Kilometer bis Cobán erfordern körperliche Höchstleistungen. Sind wir doch seit Wochen, gar Monaten kaum noch Steigungen gewohnt, warten auf der südlich verlaufenden Landstraße Kletterpartien auf uns, die wir selbst schiebend nur mit 3,5km/h bewältigen, um dann im Affenzahn auf der anderen Seite den Berg wieder hinunter zu rauschen und dem nächsten, ebenso steilen Anstieg ins Auge zu blicken. Innerhalb kürzester Zeit sind wir völlig durchgeschwitzt… haben wir ja so gewollt! Mit einem Radtag, an dem wir in 5h Fahrzeit lediglich 45km zurück legen, sind wir also durchaus zufrieden.
Departamento Alta Verapaz, Guatemala
Das bringt mich zum Stichwort Hornhaut. Kürzlich in einer Mail hinterfragt, verhält sich das mit der Hornhaut folgendermaßen: Unsere Füße sind inzwischen zart wie ein Kinderpopo, an spezifischen Stellen des unteren Rückens und an den Handballen jedoch hat sich eine gute Schutzschicht vor den Beanspruchungen des Radalltages gebildet. 🙂
Nach einem nebel- und regenreichen Tag – nichts Ungewöhnliches für die Region Alta Verapaz, wo ein Teil des guatemaltesischen Kaffees angebaut wird – erreichen wir am Abend Cobán, wo wir uns für zwei Nächte in einem ruhigen, gepflegten Hotel einmieten. Denn wie Prof. Dr. Tóth sagt: „Die wichtigste Trainingsphase ist die Regeneration.“. Und so gibt es sowohl zum Abendessen als auch zum Frühstück eine große Portion Rührei, damit unsere Muskeln auch die nächsten rund 7.000 Höhenmeter zum Lago Atitlán gut verkraften werden.
Und die haben es in sich! Fünf Tage brauchen wir für die rund 280km lange Strecke. Gleich am ersten Tag haben wir uns etwas ganz Besonderes ausgesucht und legen 27km auf Schotterpiste zurück, die ebenso von Bussen, LKW und anderem Gefährt genutzt wird und in einem entsprechend ausgemergeltem Zustand ist. Zwischendurch habe ich das Gefühl, mit meinem Rad vollkommen verschmolzen zu sein. Völlig eingestaubt erreichen wir am Abend Chixoy am gleichnamigen Fluss. Auf der Suche nach einem Zeltplatz in der Natur – gar nicht so einfach in diesem steilen Tal, in dem auf jeder halbwegs ebenen Fläche bereits ein Häuschen steht – stoßen wir auf das demnächst eröffnende Restaurant „Rancho Don Canche“. Der Besitzer Ramiro heißt uns herzlich willkommen, freut sich über unsere Gesellschaft für heute Nacht. Und das Beste: Hier gibt es sogar Duschen, um den Staub abzuspülen. Was für eine großartige Überraschung am Ende dieses herausfordernden Tages!
Ramiro und wir vor seinem zukünftigen Rancho „Don Canche“
Die extreme Höhenkletterei, verbunden mit erhöhter Schweißproduktion ist aus unserer Sicht nur mit ganz, ganz viel Essen zu kompensieren: Bananen, Hühnchen, Pommes, Reis, Bohnen, Kekse, Tortillas, Erdnussbutterbrötchen, Äpfel, Pasta, Erdnüsse, Mangos, kleine Rührkuchen sind unsere Wegzehrung, gepaart mit mehreren Litern Wasser am Tag. Am letzten (Sonn-)Tag unseres 1. Reisejahres erreichen wir zur Mittagszeit Chichicastenango im Departement Quiché. Die Stadt ist berühmt für ihren Markt, einen der größten indigenen Märkte Guatemalas, den wir natürlich entdecken wollen. Durch die engen Gassen rund um den Plaza und die Kirche Santo Tomás schlängeln wir uns vorbei an Kunsthandwerk, bunten Stoffen, Kleidung, Obst, Gemüse, Tortillerias und Essensständen.
Sonntagsmarkt in Chichicastenango
Unterwegs auf der recht ländlichen Strecke sehen wir auch die vermutlich ärmste Seite Guatemalas: Kinder und Jugendliche, die auf Müllhalden nach noch verwertbaren Dingen suchen, während der Verkehr an ihnen vorbeidonnert. Kinder, die auf den Nebenstraßen die mehr als zahlreich vorhandenen Schlaglöcher mit Dreck füllen und auf ein Trinkgeld der Vorbeifahrenden hoffen. Laut Wikipedia ist das Land eines der ärmsten Mittelamerikas, 54% der Bevölkerung leben in Armut. Dagegen ist unser Tagesbudget vergleichsweise großer Reichtum.
Am ersten Tag unseres zweiten Reisejahres, am 11. April 2016, erreichen wir den Lago Atitlán – wir kämpfen uns noch einmal (in meinem Fall mit gefühlt letzter Kraft) auf 2.700m hinauf, von wo aus sich uns ein gigantischer erster Ausblick auf den See und die ihn umgebenden drei Vulkane bietet, bevor wir uns über Schlagloch übersäte, steile Serpentinen zum Seeufer hinunter arbeiten. Wir steuern San Marcos La Laguna bzw. den dort ansässigen Pasajcap Camping an. Hier werden wir uns zwei Tage Auszeit gönnen, die absolut herrliche Ruhe genießen (nur Vogelgezwitscher, Hahnenschreie und hin und wieder ein vorbeifahrendes Wassertaxi sind zu hören), die Aussicht einsaugen, den Rädern etwas Pflege angedeihen lassen, baden und ansonsten dem süßen Nichtstun frönen. Zur Feier des Tages gibt es Kartoffeln mit Senfeiern zum Abendessen.
Ausblick, während ich den Blogeintrag fertigstelle
Inzwischen kann übrigens auch Mirko von sich behaupten, noch nie so lange und so weit mit dem Fahrrad gefahren zu sein. 🙂
Aktueller Kilometerstand: 19.538 km
Zu den Bildern bitte hier entlang.
huhu ihr beiden! gut zu wissen, dass es euch gut geht im fernen mittelamerika und das euch dort die gleichen dinge beschäftigen wie uns hier: stichwort „umkehr“ 😉 krass, nun seid ihr doch tatsächlich schon ein jahr unterwegs. glückwunsch! auch für die kommenden jahre wünschen wir euch weiterhin alles gute, glück, gesundheit und immer genügend luft im reifen! bis hoffentlich bald, die vier vögel aus L
Hey Officer,
danke für die musikalische Unterhaltung… auch wenn uns der tiefere Zusammenhang zwischen „Umkehr“ und „Vorurteilen“ noch für eine Weile auf dem Rad beschäftigen wird.
Ist denn der Axel aus Hamburg/Alsaka/Tulum mit unserem „Paket“ bei Euch zu Besuch gewesen?
Viele Grüße an Euch vier Umziehenden
hihi, na dann grübelt mal noch ne weile weiter…zeit im sattel habt ihr ja genug, wenn ihr so die berge hochschleicht 😉 leider haben der axel (aus hamburg/alaska/tulum) und ich es nicht geschafft uns während seines sehr kurzen zwischenstops in L zu treffen. er wollte uns die sachen aber nun per post senden, die trudeln also sicher bald ein! LG übrigens auch von den beiden jungen mitglieder unserer vierer-bande, die gerade entdecken, wie man ernsthaft widerstand leistet. mit dem laufrad gehts auch schon zügig voran, sobald die gepäcktaschen angepasst sind, schicken wir die euch mal für eine woche zum mitradeln 😉 bis hoffentlich bald & passt weiterhin gut auf euch auf, der officer&gattin sowie zwei revolutionäre
Hi Mirko und Ina…
……wir kriegen euch…wir kriegen euch…….
stehen kurz vor der Grenze El Salvador…..
Ihr seit Helden!!!!
Manni und Daggi
Na dan aber hurtig!!! … schließlich liegt auch noch Honduras zwischen El Salvador und Nicaragua… Wir verbringen die nächsten zwei Tage in Léon…
ach ja, tulum sooooo schön! hat mir auch am BESTEN gefallen. aber hier ist ja nun auch ein wenig sonne und da sit auch Chemnitz wieder sehr angenehm. Liebe grüße Jörg Schneider der Neidische grins